Im Juni 2021 haben fünf Menschen eine sogenannte „Verfassunsgbeschwerde“ beim Bundesverfassungsgericht eingelegt. Mit dieser Beschwerde* verlangen sie vom höchsten deutschen Gericht, zu überprüfen, ob das neue Polizeigesetz in Mecklenburg-Vorpommern verfassungskonform ist.
Eine Verfassungsbeschwerde stoppt nicht das Gesetz. Das neue Polizeigesetz ist nun so gültig, wie der Landtag MV es verabschiedet hat. Die grundrechtswidrigen Punkte werden erst geändert, wenn die Verfassungsbeschwerde entschieden ist. Das kann mehrere Jahre dauern.
Die Beschwerde wird von der renommierten Verwaltungsrechtlerin Anna Luczak vertreten. Ihr könnt die vollständige Klageschrift hier lesen.
Bereits die alte Version des Polizeigesetzes war nicht verfassungskonform. Hier hatten bereits die Grünen eine Beschwerde beim Landesverfassungsgericht eingereicht. Mehr Infos dazu findet ihr hier.
SOG-MV: Extrem daneben
Das neue Polizeigesetz widerspricht in mehreren Punkten ganz eindeutig unserem Grundgesetz. Verschiedene Paragrafen des neuen Polizeigesetzes greifen verschiedene unserer Grundrechte (Artikel) an. Das neue Polizeigesetz schwächt unser Recht auf
- Unverletzlichkeit der Wohnung
- Informationelle Selbstbestimmung
- Grundrecht auf digitale Intimsphäre („IT-Grundrecht“)
- Fernmeldegeheimnis
Ihr könnt in der Verfassungsbeschwerde auf Seite 17 im Detail lesen, welche neuen Paragrafen sich gegen welche Grundrechte richten.
Wie „funktionieren“ Grundrechtseingriffe?
Angriffe auf unsere grundlegenden Rechte sind nicht nur immer wieder Teil rechter Politiken. Meist wird der Eindruck vermittelt, Grundrechtseingriffe seien nötig, um mehr Sicherheit in der Gesellschaft zu schaffen. Tatsächlich gibt es dafür meistens keine reale Grundlage. In den vergangenen Jahren betreffen die Polizeigesetzverschärfungen zudem häufig den digitalen Raum, weil die Gesetzgebung hier nicht überall die technischen Möglichkeiten abbildet.
Die Polizeigesetzverschärfungen in den verschiedenen Bundesländern und des Bundespolizeigesetzes in den vergangenen Jahren gehen alle in eine ähnliche Richtung. Was wir in der Gesetzesverschärfung in MV sehen können:
- Grundrechte werden nicht komplett abgeschafft, aber das Recht des Staates darin einzugreifen, wird immer weiter ausgweitet („Eingriffsschwellen herabgesetzt“).
- Der Zeitpunkt, an dem Polizei und Ermittlungsbehörden ermitteln dürfen, wird immer weiter vor eine tatsächliche Straftat vorverlegt – wenn also noch gar nichts passiert ist („im Vorfeld konkreter Gefahren“).
- Der Kreis an Menschen, gegen die ermittelt werden kann, wird immer weiter ausgeweitet. So kann die Polizei nun nicht nur gegen diejenigen Untersuchungen anstellen, gegen die sie einen konkreten Verdacht hat, sondern auch deren Kontaktpersonen können Ziel von Maßnahmen werden.
- Über diese Maßnahmen muss die Polizei die Betroffenen oft nicht informieren. Wenn diese Maßnahmen also zu Unrecht durchgeführt werden, kann man sich nicht oder erst viel zu spät dagegen beschweren.
- Im neuen Gesetz gibt es keine wirksame Beschwerdestelle. Es gibt kein unabhängiges Konktrollorgan, das die Polizei wirksam bestrafen würde.Lest euch hierzu unsere Forderung nach einer unabhängigen Beschwerdestelle durch (Link). Bei manchen Maßnahmen können Betroffene sich zwar beim Landesbeauftragten für Datenschutz (Link) beschweren, dieser darf dann aber nichts tun.
Die Polizeigesetzverschärfungen sind an sich bereits problematisch. Doch es gibt daneben noch andere Gesetzesverschärfungen, die dem Staat mehr Macht einräumen und unsere Freiheiten einschränken. Mehr dazu findet ihr zum Beispiel hier.
Welche Neuerungen im Gesetz verletzen unsere Grundrechte?
Die Verfassunsgbeschwerde richtet sich nicht gegen das komplette neue SOG-MV, sondern nur gegen diejenigen Paragrafen zu heimlichen Polizeimaßnahmen, zu denen die Beschwerdeführenden begründen können, dass sie möglicherweise davon betroffen sind. Viele andere fragwürdige Regelungen können nicht direkt vor dem Verfassungsgericht angegriffen werden. Das Bündnis „SOGenannte Sicherheit“ hat deshalb weiter reichende Kritikpunkte an der Verschärfung, die ihr hier nachlesen könnt. Denn auch Verschärfungen, die „nur“ unsere tägliche Freiheit einschränken und unangenehm sind, sind schlecht. Grundrechtsverletzungen sind die Spitze des Eisbergs.
Um diesen Artikel nicht zu lang zu machen, gehen wir nicht auf jedes Detail ein. Ihr könnt die Details in der Verfassunsgbeschwerde nachlesen. Folgende Paragrafen verletzen unsere Grundrechte:
Observieren, abhören, bespitzeln(§33 SOG M-V)
Im Gesetz heißt das „Überwachung mit besondere Mitteln“ der Datenerhebung“. Der Paragraf dient dazu schwere Straftaten zu verhindern, wenn sich die Ermittlungsbehörden davon ausgehen, dass diese geplant werden.
In der alten Fassung des Polizeigesetzes war das Observieren, Abhören und Bespitzeln nur zulässig, wenn sehr schwere Straftaten konkret absehbar waren – denn im Rechtsstaat gelten die Grundrechte eben für alle, auch für Verdächtige. Neu ist nun, dass Ermittler:innen diese Techniken eher anwenden können. Hier entsteht im Gesetz eine Art Domino-Effekt: Nicht nur vor einer Straftat, sondern auch schon vor der Planung kann man nun überwacht werden. Zudem wurde die Liste der Straftaten erweitert, die hier in Betracht kommen.
Abhören und Beobachten in der Wohnung (§33b SOG M-V)
Im Gesetz heißt das „Überwachung im Wohnraum“. Auch das ist nun bereits möglich, bevor eine konkrete Gefahr besteht.
Schnüffelei auf technischen Geräten (§33c SOG M-V)
Im Gesetz heißt das „Online-Durchsuchung“. Die Polizei darf laut diesem Paragrafen nun Schnüffelsoftware auf Geräten von Verdächtigen installieren. Die Polizei hat so Zugriff auf das „digitale Ich“ eines/einer Verdächtigen. Sie kann die kompletten Daten, die jemand auf dem betreffenden Gerät hat, einsehen – auch sehr intime und persönliche Daten. Die Polizei darf dazu die Geräte aus der Ferne mit Staatstrojaner infiltrieren oder auch in die Wohnung des/der Betroffenen eindringen und Geräte suchen, um das heimlich zu tun. Sie darf auch Geräte überwachen, die nicht der/dem Verdächtigen gehören, sondern wo er/sie Informationen vielleicht abspeichern könnte.
Abhören, Mitlesen über Staatstrojaner (§33d SOG M-V)
Im Gesetz heißt das „Telekommunikationsüberwachung (TKÜ) und Quellen-TKÜ“. Hierbei überwacht die Polizei die Kommunikation, zum Beipiel Telefon, Email, SMS. Anders als bei der Online-Durchsuchung betrifft die Überwachung nur die laufende Kommunikation, nicht alle gespeicherten Daten. Die Quellen-TKÜ macht sich zudem an verschlüsselte Kommunikation (Email, Messenger) ran: Durch eine Software (Staatstrojaner), die heimlich auf den Geräten installiert wird, liest die Polizei Nachrichten, bevor sie verschlüsselt abgeschickt wurden.
Anschaulich erklärte Infos, warum Staatstrojaner verfassunsgsrechtlich kritisch betrachtet werden müssen, findet ihr hier.
Drohnen (§34 SOG M-V)
Im Gesetz heißt das „Einsatz unbemannter Luftfahrtsysteme“. Die Polizei kann Drohnen nun bei Großveranstaltungen einsetzen, zB bei Fußballspielen, Demonstrationen, Stadtfesten. Meistens geschieht dies, um aus der Luft Foto- oder Filmausnahmen zu machen, damit die Polizei weiß, wo sich bestimmte Menschengruppen befinden, die sie im Auge behalten will.
Drohnen sind heutzutage oft so klein, leise und unauffällig, dass wir sie nicht bemerken. Man merkt also meistens nicht, wenn die Polizei heimlich Aufnahmen mit Drohnen macht.
Fahrzeuge zur Beobachtung ausschreiben (§ 35 SOG-MV)
Im Gesetz heißt das „Ausschreibung zur polizeilichen Beobachtung und gezielten Kontrolle“. Die Polizei kann die Fahrzeuge (Autos, Schiffe, Boote, Flugzeuge, Container) von Verdächtigen zur Beobachtung ausschreiben. Diese Ausschreibungen enthalten Informationen über die Betreffenden. Sie können überall durchsucht werden, wo die Polizei sie trifft, und die gewonnen Infos aus den Kontrollen landen im Datensatz.
Rasterfahndung (§ 44 SOG M-V)
Bei der Rasterfahndung greift die Polizei auf alle möglichen Datensätze zu und gleicht diese Eckdaten von potentiellen Tatverdächtigen ab. Das neue Polizeigesetz MV erleichtert der Polizei den Zugriff auf Daten, die von ihrem Interesse sind. Problematisch an der Rasterfahndung ist, dass sie oft auf Vorurteilen gegenüber bestimmten Bevölkerungsgruppen fußt. Durch entsprechende Abfragen geraten Menschen nach diskriminierenden Kriterien in den Verdacht.
Keine Macht dem Datenschutz(beauftragten) (§48b SOG M-V)
In der Verfassunsgbeschwerde heißt das „fehlende Anordnungsbefugnis der oder des Landesbeauftragten für den Datenschutz“. Auf gut deutsch: Man kann sich zwar beim Datenschutzbeauftragten von MV beschweren, wenn die Polizei fälschlicherweise Daten gesammelt und gespeichert hat. Der Datenschutzbeauftragte kann einem/einer dann auch Recht geben – aber er darf nicht anordnen, dass die Polizei die Daten löschen muss.
Ein breiter zivilgesellschaftlicher Protest gegen solche Gesetzesverschärfungen ist nötig und wichtig. Demokratische Freiheiten dürfen nicht Stück für Stück ausgehöhlt werden. Werdet Unterstützer:in des Bündnisses oder macht mit.